Ralina und ihr Weg zur Selbstliebe

Autorin: Gisèle Moro

Hüftlange, blonde Haare fallen über ihre Schultern. Ihr langes Pony klemmt sie sich häufiger rasch hinters Ohr – nervöse Angewohnheit vielleicht? Wer weiß.

Auf dem rechtem Arm, knapp unter ihrem Ellenbogen, ein Muttermal, oval geformt und etwa zwei Daumen breit. Ihre Finger sind ineinander verschränkt, ihre langen Nägel mit French Tips verziert. Sie sitzt sehr aufrecht, ihre Beine sind übereinander geschlagen. Sie lächelt.

Das ist Ralina. Zumindest auf den ersten Blick.
Dass Ralina genese Bulimikerin ist, sieht man ihr nicht an.

Wie auch? Wenn es um das Aussehen von Menschen mit Essstörungen geht, gibt es keinen Standard. Alle möglichen Körper leiden oder litten einmal an gestörtem Essverhalten – so auch Ralina.

Das rot-leuchtende Wort auf ihrem T-Shirt beschreibt genau die Emotion, um die es in diesem Artikel geht. Und eine der Emotionen, die unmittelbar mit der menschlichen Erfahrung zusammenhängt – „Angst”.

Die Kollektion von Frank Berlin stellt dieses Gefühl in den Vordergrund – denn der Diskurs über Ängste und mentale Gesundheit kommt in der Modewelt, wie auch im Allgemeinen, viel zu kurz. Eine gesamte Kollektion widmeten Anh und Nida dem Thema Angst, um darauf aufmerksam zu machen, wie menschlich, wie unzertrennlich, mentale Gesundheit und Ängste zu uns gehören.

Essstörungen. Rund 0,47 Prozent der Bevölkerung in Deutschland litt 2019 unter einer Form essgestörten Verhaltens. In Bulgarien sind es rund 2,2 Prozent, das sind mehr als 150.000 Personen, die an einer Bulimie oder Anorexie erkrankt sind. „Hä warum Bulgarien” fragst du dich jetzt? Aus diesem Land zog Ralina vor drei Jahren nach Berlin. Noch vor neun Jahren war Ralina eine der 150.000 erkrankten Bulgar:innen. Heute ist sie genesen.

Doch wie gerät man überhaupt in so eine Krankheit hinein? 

Ralina kommt aus einer gutbürgerlichen Doktorsfamilie. Mit ihren Eltern wächst sie in einem kleinen bulgarischen Dorf auf – das Verhältnis zu ihrer Mutter ist schwierig. In der Pubertät zieht Ralinas Familie dann vom Dorf in die Großstadt. Ralina wechselt die Schule, und fühlt sich dort isoliert und ausgegrenzt. Bald weiß sie nicht wohin mit ihren Gefühlen, ihr wird alles zu viel.

„Ich brauchte Kontrolle.”

Sie beginnt Kalorien zu zählen, in der Hoffnung, eines wieder zu erlangen: Kontrolle.
„Bei der Bulemie geht es um Kontrolle und Gefühle. Es geht um Gefühle, die du nicht spüren willst. Es geht darum, einfach überhaupt nichts zu spüren”, so Ralina.

Scheinbare Kontrolle über das Leben und die Gefühle zurückzuerlangen ist ein wichtiger Faktor, wenn es um Essstörungen geht.

Das bestätigt auch Stepahnie Lahusen, Musiktherapeutin und Heilpraktikerin, in einem Interview mit dem Bayrischen Rundfunk: „Wenn das Leben den Jugendlichen entgleitet und die Überforderung zunimmt, entsteht in der Erkrankung das Gefühl: „Wenigstens diesen Bereich habe ich noch unter Kontrolle”.

Zu Zeiten ihrer Krankheit war es Ralina nicht einmal möglich, ihr Zimmer zu verlassen, wenn sie ihrer Ansicht nach das „falsche” Gewicht hatte. Dennoch ist sie überzeugt, dass es ihr durch die Bulemie gelang, ihren Alltag zu kontrollieren und ihm zu entfliehen. Weg von der Schule, den Mitschüler:innen, den Lehrkräften – rein in die Isolation, das Gefühlschaos, die Scheinkontrolle.

„Bulemie und Anorexie sind sehr schwarz-weiß, es gibt keine Grauzonen.”

Während ihrer Krankheit empfindet Ralina nur Gefühlsextreme. „Bulemie und Anorexie sind sehr schwarz-weiß, es gibt keine Grauzonen“, meint Ralina. Vom Höhenflug für das Einhalten des „Ernährungsplans”, geht es plötzlich zurück in die dunkelsten Tiefen – zurück in alte Muster. „Selbst bei nur einer Banane zu viel, bekam ich Panik und ich begann wieder mit dem Binge-Eating.“

Kampf zwischen zwei Gehirnen

„Während meiner Bulimie hatte ich quasi zwei Gehirne – das kranke, bulimische und das gesunde, rationale Gehirn.” Es fiel ihr schwer zu definieren, welches Gehirn Ralina wann steuerte, und zu entscheiden, auf welches Hirn sie wann hören sollte. Heute weiß sie, dass viele der toxischen Gedanken, die in ihrem Kopf schwirrten, einfach nicht echt waren. Heute weiß sie, dass man gegen solche Gedanken ankämpfen muss.

Auch wenn’s ziemlich hart ist.

Viele Jahre gelingt Ralina aber genau das nicht. Immer wieder gerät sie in den Teufelskreis hinein. Kontrollverlust, Over-Eating, Binge. Immer und immer wieder.

Dafür empfand Ralina sich selbst gegenüber einen unfassbar großen Hass.

„Da war ein unfassbar großer Hass.”

In der 9. Klasse fasst Ralina dann den Entschluss, ihren Eltern die Krankheit zu gestehen. „Meine Eltern waren ziemlich schockiert. In Bulgarien dreht sich alles darum, was die Leute über dich sagen. Ein Kind mit Bulimie zu haben, deutet für diese Leute auf eine schlechte Erziehung hin”. Ihre Eltern beschließen, Ralina in Therapie zu schicken. Vier Jahre lang besucht sie diese, doch wirklich hilfreich ist sie nicht: „Die Therapie bringt nichts, wenn du nicht erkennst, dass du dich selbst ändern musst”, meint Ralina dazu.

Der langersehnte Wake Up Call, der „Slap in the Face”, wie Ralina ihn nennt, kam von ihrer besten Freundin. „Du hast dir selbst und der Welt so viel zu geben” – diese Worte sind es, die Ralinas Weg zur Genesung einleiten.

Ihre BF gibt Ralina den Wake Up Call, den sie braucht: „Du hast dir selbst und der Welt so viel zu geben.”

Ralina machte sich schlau, las Bücher über Bulimie, Depressionen und Angststörungen, um sich selbst und ihre Krankheit besser zu verstehen. Auch von Friends und Family bekommt Ralina Unterstützung, auch wenn sie ihr nicht ganz das geben können, was sie braucht.

In erster Linie half Ralina aber sich selbst. Unter anderem mit gezieltem, positivem Selbstzuspruch. Sprüche wie: „Heute wird ein schöner Tag.”, „Du hast es verdient rauszugehen." und „Bleib positiv.”, gaben Ralina am Anfang ihrer Genesung die Kraft, die sie brauchte, um nicht rückfällig zu werden.

„Ugh, Gefühle.“

Mittlerweile haben sich Ralinas Selbstzuspruch, sowie auch ihr Leben verändert. Mit ihren Gefühlen struggelt sie aber nach wie vor. „Ich habe noch Probleme damit, meine Gefühle zuzulassen und sie auszudrücken, ugh”. Sie verdreht ihre Augen. Sie massiert sie ihr rechtes Handgelenk mit einem festen Griff. Mit jedem Öffnen der Hand lässt sie blasse Fingerabdrücke auf ihrem Handgelenk zurück.

An den Punkt zu kommen, an dem sie emotionale Nähe zulassen und Hilfe akzeptieren kann, macht Ralina große Angst. Denn wenn man an einer Essstörung leidet, hat man laut Ralina, im Inneren das Gefühl, dass Leute sich distanzieren, sobald sie einen wirklich kennenlernen.

„Das Wichtigste ist, sich selbst zu verzeihen.”

Eine Sache ist Ralina aber bereits gelungen: sich selbst zu verzeihen. Sie handelt heutzutage nicht mehr aus Selbsthass, sondern aus Selbstliebe und hat entsprechende Rituale für sich selbst etabliert – Meditation, Fahrradfahren, im Park entspannen. Diese helfen ihr, richtig in den Tag zu starten und bei sich selbst zu bleiben. Auch ihr Umgang mit negativen Gefühlen ist heute ein ganz Anderer. Ihr ist es mittlerweile möglich, Zuneigung und Unterstützung von ihren Liebsten zu akzeptieren. Und das hilft ihr enorm.

Ja, Ralina ist mittlerweile neun Jahre genesen. Das heißt aber noch lange nicht, dass ihr Leben plötzlich eine weit und breit steinfreie Straße ist, auf der sie gemütlich von Jahr zu Jahr schlendern kann. Für Ralina ist und bleibt es ein Prozess, ihr Leben zu meistern. Selbstzweifel und -kritik, ungehemmte Gefühle, Anxiety, Depressionen – all das sind Felsen, die Ralina jeden Tag erklimmen muss.

Immer ein kleines Stückchen höher.

Ralina klemmt sich rasch eine Strähne hinters Ohr. Nervöse Angewohnheit vielleicht? – Wer weiß. Sie lacht verlegen, bevor sie ihre angespannten Schultern erleichtert fallen lässt. Puh.

Welche Gedanken Ralina wohl durch den Kopf gehen, jetzt wo sie uns ihre Geschichte erzählt hat? Welche Gefühle sich wohl hinter ihrem schüchternen Lächeln verbergen? Stress? Hoffnung? Freude? Angst? Das wissen wir nicht. Und vielleicht weiß auch Ralina das nicht so genau.

Aber das ist okay. Es ist okay, nicht immer zu wissen, was in einem vorgeht. Vielleicht ist es okay, zu klettern und zu klettern und zu klettern – Stück für Stück. Und vielleicht kommt Ralina ja eines sonnigen Tages an der Spitze ihres Felsens an. Und kann entspannt die Sicht von oben genießen. Wir wünschen es ihr auf jeden Fall.

Ah, und nur keine Sorge Ralina. Auf der Suche danach herauszufinden, wie man das Leben so „richtig“ auf die Kette kriegt, bist du alles andere als allein.

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Wenn du von einer Essstörung betroffen bist, oder glaubst es zu sein, mach dich hier schlau und lies nach wo du Hilfe bekommen kannst:

BZgA Essstörungen

Was können Angehörige & Andere tun? | BZgA Essstörungen

Hilfe und Beratung bei psychischen Erkrankungen

Therapieplatz in Berlin finden: Schritt für Schritt

Dir lastet etwas auf dem Herzen, das du mit niemandem besprechen kannst? Die Telefonseelsorge kann helfen! Du erreichst sie unter folgender Nummer: 0800/1110111 oder 0800/1110222.

Mehr Infos hier: Telefon - TelefonSeelsorge® Deutschland

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